Abstracts Panel I

Freitag, 15.06.2018, 10.45-11.20 Uhr

Gesellschaftstheorie

Dr. Michael Görtler (Uni Bamberg)
Politik, Bildung, Beschleunigung? Theoretisch-reflexive Überlegungen zur Bedeutung von Zeit-Diagnosen für Politikdidaktik und politische Bildung

Gesellschaftsdiagnosen sind nicht nur ein fester Bestandteil der soziologischen Forschung, sondern werden auch im Fachdiskurs der Politikdidaktik und politischen Bildung rezipiert. Darunter befinden sich auch Analysen, welche die Bedeutung der Zeit für Politik, Bildung und Lebenswelt fokussieren und daher für Politikdidaktik und politische Bildung – z.B. mit Blick auf Demokratie (vgl. Korte 2012) oder Bildung (vgl. Jacobs/Sanders 2014) – relevant sind (vgl. Görtler 2012). Anschlussfähig ist u.a. die Zeit‐Diagnose der „Beschleunigungsgesellschaft“ (vgl. Rosa 2013), aber auch das Konzept der „Entschleunigung“ (vgl. Reheis 2012), die beide in den Erziehungs‐ und Sozialwissenschaften im Kontext von Bildung, Lehren und Lernen (vgl. Zeiher/Schroeder 2013) diskutiert werden. Der Vortrag soll sich am Call for Papers orientieren und sich mit der Bedeutung von Zeit‐Diagnosen für Politikdidaktik und politische Bildung auseinandersetzen. Zum einen soll der Vortrag die Zeit‐Diagnose der Beschleunigung und deren Folgen für politisches Lehren und Lernen kritisch reflektieren; zum anderen soll es um die Frage gehen, wie Zeit‐Diagnosen unter Beachtung des Kontroversitätsgebots zum Gegenstand gemacht werden können, um die kritische Reflexions‐ und Urteilsfähigkeit der Lernenden zu fördern. Der Fokus soll dabei nicht nur auf der schulischen politischen Bildung, sondern auch auf der außerschulischen politischen Jugend‐ und Erwachsenenbildung liegen.

Literatur:

  • Görtler, M. (2012): Politikdidaktik und Zeit. In: Ders. / Reheis, F. (Hrsg.): Reifezeiten. Zur Bedeutung der Zeit in Bildung, Politik und politischer Bildung. Schwalbach/Ts, 193‐208.
  • Jacobs, S. / Sanders, C. M. (2014): Die beschleunigte Hochschule. Eine Bildungskritik. In: Tremmel, J. (Hrsg.): Generationengerechte und nachhaltige Bildungspolitik. Wiesbaden, 293‐325.
  • Korte, K.(2012): Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall. In: APuZ. 7, 21‐26.
  • Reheis, F. (2012): Entschleunigung. In: Fischer, E. P. / Wiegandt, K. (Hrsg.): Dimensionen der Zeit. Berlin, 213‐226.
  • Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin.
  • Zeiher, H. / Schroeder, S. (Hrsg.) (2008): Schulzeiten, Lernzeiten, Lebenszeiten – Pädagogische Konsequenzen und zeitpolitische Perspektiven schulischer Zeitordnungen. Weinheim.

 

Fächerzuschnitt

Prof. Dr. Reinhold Hedtke (Uni Bielefeld)
Gesellschaftliche Bildung: Die Integration sozialer, politischer und wirtschaftlicher Perspektiven in der Sekundarstufe I

In der sozialwissenschaftlichen Domäne des gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereichs der Sekundarstufe I haben so genannte Integrationsfächer Tradition. Sie sind curricularer Mainstream, sieht man von Einzelfällen neu eingeführter Separatfächer für Wirtschaft ab. Fachdidaktische Konzepte müssen sich zu dieser bildungspolitisch-curricularen Faktenlage verhalten.
An Bildung in unserer Domäne richten sich hohe Erwartungen. Sie speisen sich aus Beobachtungen, die Verflechtungen zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft als vielgestaltiger, komplexer und unübersichtlicher beschreiben. Damit geht ein tatsächlicher oder wahrgenommener Verlust an politischer Steuerungsfähigkeit, kollektivem und persönlichen Orientierungsvermögen und individueller Selbstwirksamkeit einher. Die allgemein beklagte Individualisierung verstärkt Eindrücke von Herausforderung und Bedrohung, Verlust und Ohnmacht.
Gesellschaftliche Bildung kann dem zweifach begegnen. Erstens kann sie das klassische domänenspezifische Bildungsprogramm der sozialwissenschaftlichen Erklärung und Aufklärung aktualisieren. Zweitens kann sie in Schulen die Arena für gesellschaftliche Deutung, Kontroverse, Verständigung und Aktivierung organisieren und so die beklagten Verhältnisse an Erfahrungen zurückbinden sowie versuchsweise verflüssigen.
Wenn die im Call beschriebene Diagnose im Grundsatz stimmt, dann braucht die sozialwissenschaftliche Domäne in der Sekundarstufe I keine Zuspitzung disziplinärer Differenzen, sondern einen klug organisierten sozialwissenschaftlichen Bildungsgang. Als allgemeinste Leitidee dafür bietet sich ein sozialwissenschaftlicher Weltzugang an. In diesem Sinne macht der Vortrag einen Vorschlag für eine gesellschaftliche Bildung, die die drei Gegenstandsbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft dadurch erschließen und durchdringen will, dass sie die Gemeinsamkeiten der sozialwissenschaftlichen Disziplinen in den Vordergrund der Bildungsprozesse stellt.

Literatur:

  • Brühne, T. (2014): Bestandsaufnahme gesellschaftswissenschaftlicher Fächerverbünde in Deutschland und Überlegungen zu einer stärker integrativ ausgericheten Organisationsform. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. 5 (1), 100-115.
  • Hedtke, R. (2018): Sozialwissenschaftlichkeit als sozioökonomiedidaktisches Prinzip. In: Engartner, T. / Fridrich, C. / Graupe, S. / Hedtke, R. / Tafner, G. (Hrsg.): Sozioökonomische Bildung und Wissenschaft. Entwicklungslinien und Perspektiven. Wiesbaden, 1-26 (i. E.).
  • Kröll, F. / Stögner, K. (2015): Sozialwissenschaftliche Denkweisen. Eine Einführung. Wien.

 

Weitere Forschung

Sören Torrau (Uni Hamburg)
Wie Präsentationen Wissen formen. Zur Praxis einer sozialwissenschaftlichen Lernerdidaktik

Präsentationen sind fester Bestandteil schulischen Lehrens und Lernens im Lernfeld Gesellschaft. Trotz des häufigen Einsatzes im Schulalltag und der Fülle an Handreichungen zur Präsentationskompetenz ist das Format bezüglich seiner fachdidaktischen Funktionen noch nahezu unerforscht (vgl. Besand 2010): Das ‚How-to’ des Präsentierens dominiert. Für das Lernfeld Gesellschaft liegen bislang keine ausführlich dokumentieren Fallbeispiele zu Präsentationen vor. Dabei können diese nicht nur auf Zeigekompetenzen der Schüler/-innen verweisen – „Sich als Zeigender zeigen“ (Idel/Rabenstein 2013) –, sondern auch Transformationsprozesse von Wissen durch lernerdidaktisches Handeln hervorheben: Lernende wählen Themen aus, entwickeln zusammen mit Lehrkräften Leitfragen, trennen Unwichtiges von Wichtigem, gestalten ihre Präsentation medial, kurz: Sie handeln lernerdidaktisch. Eine daraus resultierende „Verschiebung von Zeigepraktiken“ (ebd., 53) hat nicht nur Auswirkungen auf die Artikulation von Unterricht, sondern auch auf die inhaltliche Prozessierung politischer Lerngegenstände.
Daraus entwickeln sich folgende Fragen: Wie wird Wissen von Schüler/-innen in Präsentationen im Lernfeld Gesellschaft als Wissen dargestellt und inszeniert? Wie transformieren Schüler/-innen Wissen in Präsentationen auf Grundlage lernerdidaktischer Entscheidungen? Welche fachdidaktischen Ziele und Funktionen haben Präsentationen im Politikunterricht? Mithilfe des Zeigebegriffs als „Hauptoperation“ (Prange 2012, 63) der Erziehung wurden Präsentationen aus dem Lernfeld Gesellschaft empirisch analysiert. Dazu wurde das Modell der Wissensformen (vgl. Grammes 1998) als fachdidaktisches Instrumentarium gewählt, um inhaltlich auf Transformationsprozesse zugreifen zu können. Präsentationen haben gesamtgesellschaftlich Darstellungen von Wissen verändert, das Format wird als „konstitutive“ Kommunikationsform einer „Wissensgesellschaft“ (Schnettler/Knoblauch 2007, 271) gerahmt. Sie stellen einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess von Kommunikation dar, der sich auch im Politikunterricht widerspiegelt (vgl. Peters 2011; vgl. Wilke et al. 2018). Präsentationen sind damit eine Sachmethode gesellschaftlichen Verstehens, sie sind eine Sachmethode der Herstellung von Wissen im Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft. Zentrales Ergebnis der Arbeit ist, dass Präsentationen aufgrund dessen im Politikunterricht als Unterrichtsmethode eingesetzt werden, um die Entstehung und das Prozessieren gesellschaftlichen Wissens im Lernfeld Gesellschaft sozialwissenschaftlich zu erkunden.
Damit sind Präsentationen grundlegend dazu konzipiert, Schüler/-innen sozialwissenschaftlich, d.h. in der Wechselbewegung von Individuum und Gesellschaft, an die Konstitutionsbedingungen von Wissen heranzuführen. Kern- und Unterscheidungsmerkmal der Unterrichtsmethode: Das Zeigen wird für die Präsentationsphase wesentlich und hauptverantwortlich den Schüler/-innen übertragen. Wissen wird infolgedessen durch lernerdidaktisches Zeigen transformiert. Präsentationen bilden innerhalb der Institution Unterricht einen institutionalisierten Rahmen, in welchem Schüler/-innen nicht ‚einfach‘ kommunikativ handeln, sondern dies in spezifischer Art und Weise können und sollen: als Zeigehandelnde – und damit lernen, wie Wissen sozialwissenschaftlich durch sozial-kommunikatives Handeln ‚hergestellt‘ wird.
„Der Verfasser vertritt darüber hinaus die Auffassung, daß der Schüler nicht nur ‚Methode‘ haben solle, wie es Gaudig forderte. Vielmehr ist zu fordern: Er habe Didaktik, das heißt, er lerne kategoriale Fragen zu stellen, das für das Überleben und ‚gutes Leben‘ Bedeutsame zu erkennen.“ (Hilligen 1978, 207).

Literatur:

  • Besand, A. (2010): „Computergestützte Präsentation“. In: Besand, A. /  Sander, W. (Hrsg.): Handbuch Medien in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., 115–123.
  • Grammes, T. (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Opladen.
  • Hilligen, W. (1978): Zur Didaktik des politischen Unterrichts I. Wissenschaftliche Voraussetzungen - Didaktische Konzeptionen – Praxisbezug. 3. durchgesehene Aufl. Opladen.
  • Idel, T.-S. /  Rabenstein, K. (2013): „„Sich als Zeigender zeigen". Verschiebungen des Zeigens im Gesprächsformaten im individualisierten Unterricht“. In: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung. 2, 38–57.
  • Peters, S. (2011): Der Vortrag als Performance. Bielefeld.
  • Prange, K. (2012): Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss einer Operativen Pädagogik. 2. Aufl. Paderborn.
  • Schnettler, B. / Knoblauch, H. (2007): Die Präsentation der ‚Wissensgesellschaft.‘ Gegenwartsdiagnostische Nachüberlegungen. In: Schnettler, B. / Knoblauch, H. (Hrsg.): Powerpoint-Präsentationen. Neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen. Konstanz, 267–283.
  • Wilke, R. / Lettkemann, E. / Knoblauch, H. (2018): Präsentationales Wissen. Die kommunikative Konstruktion von Evidenz am Beispiel der Computational Neuroscience. Knowledge in Action. Neue Formen der Kommunikation in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden, 239–271.

 

Weitere Forschung

Natalie Grobshäuser (PH Karlsruhe)
Lerngelegenheiten im Politikunterricht und deren Bedeutung für das Lernergebnis

Das Angebot zielgerichteter Lerngelegenheiten soll zu besseren Lernergebnissen führen. Eine häufig eingesetzte Lerngelegenheit im Politikunterricht ist die Arbeit mit Texten. Vergleichsstudien wie PISA unterscheiden drei Arten von Leseaufgaben auf Seiten der Lerngelegenheiten: Reflektieren und Bewerten von Texten, Umgang mit diskontinuierlichen Texten sowie textbezogenes Kombinieren und Interpretieren (Steiner, Hochweber & Hertel, 2013). Um positiv auf das Lernergebnis einwirken zu können, müssen Leseaufgaben zur kognitiven Aktivierung der Schüler/-innen beitragen. Kognitive Aktivierung gilt im Rahmen der unterrichtlichen Tiefenstrukturen als Kriterium qualitätvollen Unterrichts und bezeichnet das Potential des Unterrichts zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff (Kunter & Ewald, 2016).
Für den Politikunterricht ist nicht bekannt, wie häufig die verschiedenen Leseaufgaben eingesetzt werden und wie sie mit kognitiver Aktivierung sowie dem Lernergebnis in Form von Fachwissen zusammenhängen. Um empirische Erkenntnisse zu diesen Fragen zu erhalten, wurden 1324 Schüler/-innen der neunten Klassenstufe an Realschulen in Baden-Württemberg befragt. In einem standardisierten Fragebogen wurde zum einen das schulische politische Wissen erhoben. Zum anderen wurden erprobte Skalen zu der Häufigkeit von Leseaufgaben sowie zur kognitiven Aktivierung aus PISA (Hertel et al., 2009) eingesetzt. Zur Modellierung des Fachwissens wurde die individuelle Personenfähigkeit (WLE) anhand des Raschmodells geschätzt. Die Skalen wurden konfirmatorischen Faktorenanalysen unterzogen. Anschließend wurden die Zusammenhänge zwischen Leseaufgaben, kognitiver Aktivierung und Fachwissen latent modelliert.
Die Ergebnisse zeigen zunächst hohe Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Leseaufgaben und eine gute Passung des dreidimensionalen Modells der Leseaufgaben. Unter Kontrolle des Geschlechts, des Migrationshintergrunds und des kulturellen Kapitals im Elternhaus zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Leseaufgaben und kognitiver Aktivierung im Politikunterricht. Die kognitive Aktivierung zeigt einen positiven, wenn auch nur sehr geringen Effekt auf das Wissen als Lernergebnis. Überraschend ist der leicht negative Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Leseaufgaben und dem politischen Wissen.

Literatur:

  • Hertel, S. /Hochweber, J. / Mildner, D. / Steinert, B. / Jude, N. (2014): PISA 2009 Skalenhandbuch. Münster/New York.
  • Kunter, M. / Ewald, S. (2016): Bedingungen und Effekte von Unterricht: Aktuelle Forschungsperspektiven aus der pädagogischen Psychologie. In: McElvany, N. / Bos, W. / Holtappels., H. G.  / Gebauer, M. M.  / Schwabe, F. (Hrsg.): Bedingungen und Effekte guten Unterrichts. Münster/New York, 9-32.
  • Steinert, B. / Hochweber, J. / Hertel, S. (2013): Lesekompetenz und Lesefreude von Schülerinnen und Schülern und bildungsstandardbezogene Kompetenzüberzeugungen und Lerngelegenheiten in Schule und Unterricht. In: Jude, N. / Klieme, E. (Hrsg.): PISA 2009 – Impulse für die Schul- und Unterrichtsforschung. Weinheim, 12-39.