Abstracts Panel II

Freitag, 15.06.2018, 11.25-12.00 Uhr

Gesellschaftstheorie

Dr. Christian Fischer (Uni Rostock)
Hans-Joachim Maaz‘ Diagnose der „normopathischen Gesellschaft“: Über mögliche Impulse und Risiken einer psychoanalytischen Gegenwartskritik für die Theorie und Praxis der Politischen Bildung

Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker, Psychotherapeut und Bestseller-Autor, entwirft in seinem aktuellen Buch „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (Maaz 2017) eine kritische Gegenwartsdiagnose. Er geht davon aus, dass die große Mehrheit der Menschen ein selbstentfremdetes Leben führt, welches aber den gesellschaftlichen Normen entspricht. Um soziale Anerkennung zu erhalten sowie sozial und ökonomisch erfolgreich zu sein, wird das „falsche Leben“ unter Anpassung an die gesellschaftlichen Normen geschützt. Dieses Phänomen nennt Maaz „Normopathie“. Die aktuelle Krise unserer normopathischen Gesellschaft zeige sich unter anderem in einem übermäßigen, destruktiven Konsumismus, voranschreitender Empathielosigkeit sowie in einer Zuspitzung sozialer und politischer Konflikte, bei gleichzeitiger Zunahme eines politisch-normativen Konformitätsdrucks. In diesem Zusammenhang analysiert Maaz eingehend die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik. Sein Fazit: „In der aktuellen Krise werden die falschen Selbst aktiviert, die mit den typischen Abwehrmechanismen der Spaltung, Projektion und Reaktionsbildung das gesellschaftliche Klima zunehmend vergiften und das Zusammenleben belasten“ (Maaz 2017: 158). In Kontrastierung dazu entwickelt Maaz seine Idee einer „inneren Demokratie“ als Persönlichkeitseigenschaft, die Selbstbestimmung ermöglicht und das Funktionieren der „äußeren“ Demokratie absichert. Die Grundlage dafür bildet eine neue „Beziehungskultur“. Im vorliegenden Vortrag soll Maaz' Gegenwartsdiagnose vorgestellt und politikdidaktisch reflektiert werden. Es ist zu überprüfen, ob/inwiefern sich aus ihr Impulse für die Theorie und Praxis der Politischen Bildung – mit Blick auf die Analyse von Lernvoraussetzungen, die Entwicklung von Lernzielen, die Auswahl von Lerngegenständen und die Unterrichtsgestaltung – ergeben. Gleichzeitig besteht aber auch die Notwendigkeit, auf die Risiken und Gefahren einzugehen, die in einer politikdidaktischen Bezugnahme auf Maaz' psychoanalytische Gegenwartsdiagnose angelegt sind. Hier sind vor allem der umfassende Geltungsanspruch, die Normativität der Perspektive sowie die Gefahr der Überwältigung und Indiskretion im Kontext des Unterrichts kritisch zu reflektieren.

Literatur:

  • Autorengruppe Fachdidaktik (2011): Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung – Perspektiven für Wissenschaft und Praxis. In: Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift. Schwalbach/Ts., 163-171.
  • Haarmann, M. P. / Lange, D. (2016): Emanzipation als Kernaufgabe politischer Bildung. Überlegungen zum Beutelsbacher Konsens. In: Widmaier, B. / Zorn, P. (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn, 166-170.
  • Maaz, H.-J. (2012): Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. München.
  • Maaz, H.-J. (2017): Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. 3. Aufl. München.
  • Reinhardt, S. (1976/2014): Wie politisch darf der Politiklehrer sein? In: Grammes, T. / Petrik, A. (Hrsg.): „Ich freue mich, dass Sie Spaß am Politik-Unterricht haben“. Ein Streifzug durch das Werk der politikdidaktischen Klassikerin Sibylle Reinhardt. Opladen, 100-116.

 

Fächerzuschnitt

Prof. Dr. Thomas Goll (TU Dortmund)
„Darf‘s noch etwas mehr sein?“ – der Spagat von fachlichem und generalisierendem Anspruch

Der Vortrag befasst sich, kritisch ausgehend von der Gesellschaftsdiagnose einer „zunehmenden Verflechtung von Gesellschaft, Politik und Ökonomie“, mit der Frage eines angemessenen und zugleich implementierbaren Fächerzuschnitts im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld. Dabei werden, basierend auf Dokumentenanalysen (z.B. amtliche Richtlinien NRW, Modulhandbücher), empirischen Daten (z.B. amtliche Schulstatistik NRW) sowie Erfahrungen mit den Integrationsfächern Sachunterricht und Sozialwissenschaften in Ausbildung und Umsetzung in Nordrhein-Westfalen (z.B. aus Praxissemesterberichten), mögliche Integrationsperspektiven und deren faktische Grenzen reflektiert. Schon die theoretisch begründbare und in Studienordnungen gegossene Integration politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Perspektiven wirft in der Umsetzung Probleme auf. Die Integration rechtlicher Aspekte findet nur rudimentär und fachwissenschaftlich kaum fundiert statt und die der weiterführenden historischen, geographischen oder gar naturwissenschaftlichen Perspektiven kann – wenn überhaupt möglich – nur auf Kosten einer tieferen fachlichen Durchdringung erfolgen. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass das Integrationsfachmodell nicht grundsätzlich neu gedacht werden muss, die Forderung nach einer sogar noch auszuweitenden Integration aber angesichts der Realitäten des Universitäts- und Schulsystems weder umsetzbar noch wünschenswert ist. Dies wird exemplarisch am Beispiel der Didaktik des Sachunterrichts gezeigt, die als „erfolgreiche“ Integrationsdidaktik gilt.

Literatur:

  • GDSU (Hrsg.) (2013): Perspektivrahmen Sachunterricht. 2. Aufl. Bad Heilbrunn.
  • Goll, T. (2013): Konzeptverständnis in der Didaktik der Naturwissenschaften und der politischen Bildung – Befunde und Konsequenzen für Lehrerbildung. In: Besand, A. (Hrsg.): Lehrer- und Schülerforschung in der politischen Bildung. Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung. 12. Schwalbach/Ts, 133-152.
  • Hedtke, R. (2002): Wirtschaft und Politik. Über die fragwürdige Trennung von politischer und ökonomischer Bildung. Schwalbach/Ts.

 

Weitere Forschung

Prof. Dr. Sabine Achour (Uni Marburg)
Annemarie Jordan (FU Berlin)
Professionelle Wahrnehmungs- und Beurteilungskompetenz angehender Politiklehrkräfte: Videofall-basierte Lernarrangements zum Formulieren von politischer Urteilen

Voraussetzung eines erfolgreichen adaptiven Unterrichts ist, dass Lehrkräfte in einer hochkomplexen Situation wesentliche Aspekte kriteriengeleitet wahrnehmen, diese richtig beurteilen und bezogen auf eine Ausgangssituation Unterrichtsverläufe antizipieren sowie wirksame Handlungsstrategien generieren (Seidel et al., 2010). Diese Kompetenzen können durch die Arbeit mit Unterrichtsaufnahmen bereits im Studium trainiert werden. Das Erarbeiten der politischen Urteils- und Handlungskompetenz ist eine der zentralen Zielstellungen des Politikunterrichts, deren Wahrnehmung und Beurteilung ins-besondere angehenden Politiklehrkräften schwerfällt (Manzel & Weißeno, 2017). Daher wurde aufbauend auf dem Modell der professionellen Wahrnehmung und Beurteilung von Unterricht (Barth, 2017) eine videofallbasierte Lehr-Lerngelegenheit entwickelt, die das Formulieren von politischen Urteilen thematisiert (Achour & Jordan, 2017). Evaluiert wurde diese Lerngelegenheit in einer quasi-experimentellen videofallbasierten Prä-Post-Interventionsstudie mittels eines Videotests. Die Auswertung der überwiegend offenen Antwortformate erfolgt mittels der qualitativen Inhaltsanalyse. Erste Auswertungen deuten an, dass sich die Arbeit mit videofallbasierten Vignetten eignet, um die fachspezifischen Konzepte des Formulierens von politischen Urteilen zu vermitteln und von den angehenden Lehrkräften als stark motivierend wahrgenommen werden. Im Rahmen des Vortrages werden das Modell der Wahrnehmung und Beurteilung in Bezug auf das Formulieren von politischen sowie erste Ergebnisse der Studie vorgestellt.

Literatur:

  • Achour, S. / Jordan, A. (2017): Formulieren politischer Urteile – Professionell wahrnehmen
    und kompetent Fördern. In: Achour, S. / Massing, P. (Hrsg.): Individuelle Förderung.
    Wochenschau Sonderheft. Schwalbach/Ts.
  • Barth, V. L. (2017): Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Wiesbaden.
    Manzel, S. / Weißeno, G. (2017): Modell der politischen Urteilsfähigkeit – eine Dimension der
    Politikkompetenz. In: Oberle, M. / Weißeno, G. (Hrsg.): Politikwissenschaft und Politikdidaktik.
    Wiesbaden, 59-86.
  • Seidel, T. / Blomberg, G. / Stürmer, K. (2010): "Observer". Validierung eines videobasierten
    Instruments zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung von Unterricht. In: Klieme,
    E. / Leutner, D. / Kenk, M. (Hrsg.): Kompetenzmodellierung. Zwischenbilanz des DFG-Schwerpunktprogramms und Perspektiven des Forschungsansatzes. Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft. 56, 296-306.

 

Weitere Forschung

Prof. Dr. Andreas Klee (Uni Bremen)
Julia Neuhof (Uni Bremen)
Luisa Lemme (Uni Potsdam)
Der Wandel von Staatlichkeit als Ziel- und Ausgangspunkt politischen Lernens in der Praxis

Mit dem Begriff Demokratie wirkt nicht nur eine politische und politikwissenschaftliche Perspektive,
sondern ein normatives Versprechen (Buchstein/Jörke 2003). Die reale institutionelle Kompetenz
demokratischer Staaten hinsichtlich globaler Herausforderungen und politischer Koordinierungszwänge im europäischen und globalen System erscheint demgegenüber jedoch häufig als brüchig. Die als alltagsweltlich wahrgenommene „‚schmutzige‘ politische Realität“ passt nicht zum angelegten „normativ überhöhten Ideal“ (Massing 2002: 173). Die defizitorientierte Wahrnehmung verweist teils auf den wachen Blick einer kritischen Bevölkerung, teils auch auf eine Schieflage zwischen Erwartung und Möglichkeiten staatlicher Institutionen. Unter Einbezug sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen, die strukturelle Unsicherheit sowie wachsende Komplexität zahlreicher Bereiche menschlicher Interaktion belegen, müssen aus politikdidaktischem Blickwinkel die Wahrnehmungsbegrenzungen als sachbedingte Lernschwierigkeiten verstanden und aufgearbeitet werden. Der Betrag fokussiert diesbezüglich auf den Staat als weitgehend autarker Akteur, der trotz divergierender Befunde als konzeptuelle Referenz weiterhin unumstößlich scheint (Schuppert 2010). Der Beitrag diskutiert, wo sich Schwierigkeiten aufgrund des Bildes eines idealtypischen Nationalstaats im politischen Lernen auftuen (vgl. Klee et al. 2011) und geht der Frage nach, inwieweit sich Staatlichkeit als begriffliches Konzept fruchtbar in politische Lehr-Lern-Arrangements tragen lässt. Darauf, dass gerade Staat als wesentlicher und diskutierter Begriff innerhalb des politikwissenschaftlichen Diskurses einer ausdifferenzierten politikdidaktischen Auseinandersetzung bedarf, weisen die Befunde zu entsprechenden diffusen Lernendenvorstellungen hin (vgl. Lemme und Neuhof 2015). Diese zeigen, dass Staat auf der lernpraktischen Verhandlungsebne nicht als eingängig, homogenes Konzept angenommen werden kann.

Literatur:

  • Buchstein, H. / Jörke, D. (2003): Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In: Leviathan. 31 (4), 470-495.
  • Klee, A. / Lemme, L. / Lutter, A. (2011): Wandel des Staates als Herausforderung für die Didaktik der Politischen Bildung. In: Polis. (1), 21-24.
  • Lemme, L. / Neuhof, J. (2015): Verstehensweisen von Staat - eine empirische Untersuchung der Lernersicht. In: Weißeno, G. /Schelle, C. (Hrsg.): Empirische Forschung in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Ergebnisse und Perspektiven. Wiesbaden, 111-125.
  • Massing, P. (2002): Demokratie-Lernen oder Politik-Lernen? In: Demokratie-Lernen als Aufgabe der politischen Bildung. Schwalbach/Ts, 160–187.
  • Schuppert, G. F. (2010): Der Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen. Frankfurt/ New York.