Abstracts Panel III

Freitag, 15.06.2018, 13.30-14.05 Uhr

Gesellschaftstheorie

Elia Scaramuzza (Uni Mainz)
Die Vermitteltheit von Gesellschafts- und Bildungstheorie oder: Zur Dialektik Politischer Bildung

Das Verhältnis zwischen Gesellschaftstheorie und Bildungstheorie in der Politischen Bildung ist ein spannungsreiches: Wird eine Seite hypostasiert, riskiert Politische Bildung, ihren eigenen Anspruch der „Anstiftung zur Freiheit“ (Sander 2018) zu unterlaufen. Politische Bildung, die nur Gesellschaftstheorie in den Blick nimmt, läuft Gefahr, ihre eigene Bildungsperspektive aus den Augen zu verlieren. Ebenso läuft eine Politische Bildung, die sich ausschließlich auf ‚Bildung’ kapriziert und gesellschaftstheoretische Perspektiven ausklammert, sich selbst zuwider: Sie berücksichtigt nicht die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Bildungsprozesse eingebettet sind und Freiheit erst ermöglichen. Der Vortrag weist eine Dichotomie von Bildung und Gesellschaft als unterbestimmt zurück und entwickelt daher eine dialektische Perspektive, die Politische Bildung weder an Gesellschafts- noch Bildungstheorie allein ausrichtet, sondern ihre innere Vermittlung betrachtet: So kann die Bedeutung von Gesellschaftstheorie für eine Politische Bildung herausgearbeitet werden, die ausgerichtet ist an der „Erweiterung der Denk-, Urteils- und Handlungsmöglichkeiten“ (Müller 2011) der an Bildungsprozessen Beteiligen und deren Einschränkungen zurückweist. Herangezogen werden hierfür vor allem die bildungstheoretischen Überlegungen von Wolfgang Sander sowie die gesellschaftstheoretischen Ausführungen von Theodor W. Adorno, denen die Vermitteltheit von Bildungs- und Gesellschaftstheorie entnommen werden kann.

Literatur:

  • Adorno, T. W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt am Main.
  • Müller, S. (2011): Logik, Widerspruch und Vermittlung. Aspekte der Dialektik in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden.
  • Ritsert, J. (2017): Zur Philosophie des Gesellschaftsbegriffs. Studien über eine undurchsichtige Kategorie. Weinheim.
  • Sander, W. (2018): Bildung – ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. Steinbach/Ts. (i. E.).

 

Fächerzuschnitt

Prof. Dr. Andreas Klee (Uni Bremen)
Dr. Eva Anslinger (Uni Bremen)
„Arbeitsorientierte politische Bildung“: Ein Reformkonzept für die Lehrkräfteausbildung im Bereich Politik-Arbeit-Wirtschaft an der Uni Bremen

Die Frage nach der Realisierung einer sozio-ökonomischen Bildung in der Schule ist derzeit eine zentrale Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Bildung und wird insbesondere auf der politischen Ebene intensiv diskutiert. Dabei bestehen offene Konfliktlinien zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. Es wird kritisiert, dass die Interessen von Unternehmen weitreichend den schulischen Alltag beeinflussen könnten und sogar – vor allem in Bezug auf die berufliche Orientierung – mittlerweile von einer „Kolonialisierung“ der Schulen für wirtschaftliche Interessen gesprochen werden kann (vgl. Anslinger et. al 2017; Engartner 2014). Unstrittig ist hingegen, dass durch die in diesem Feld vorhandene gesellschaftliche Dynamik die Nachfrage nach einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex groß ist.
Angelehnt an diese Herausforderung reagieren die Didaktiken der Sozialwissenschaften der Universität Bremen mit der Neugestaltung des Studiengangs Lehramt „Politik“ zu „Politik-Arbeit-Wirtschaft". Besonders reizvoll daran ist, dass eine ökonomisch sowie berufs- und arbeitsweltlich ausgerichtete Lehramtsausbildung an einem Institut für Politikwissenschaft angesiedelt wird. Darüber hinaus reagiert der neue Studiengang auch auf die schulische Anforderung von Berufsorientierung als Querschnittaufgabe. Orientiert an einer „Arbeitsorientierten Bildung“ wird dabei auf das Postulat der Arbeitslehre rekurriert, in dem die Arbeitswelt nicht ausschließlich die Berufsarbeit umfasst sondern alle Tätigkeiten und Arbeitsformen wie „Eigenarbeit“ oder „Gesellschaftsarbeit“ in den Blick genommen und als ein Handlungs- und Bedingungsgefüge struktureller Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt konzeptioniert werden (Dedering 1996).
In dem Tagungsbeitrag werden theoretische Überlegungen und die Konzeption des neu gestalteten Studiengangs vorgestellt und an einem an der Handlungsorientierung ausgerichteten Konzept zur beruflichen Orientierung diskutiert.

Literatur:

  • Anslinger, E. / Barp, C. / Partetzke, M. (2017): „Wenn einer nicht weiß, wo links und rechts ist, wie soll er dann geradeaus wissen?“ Das Projekt Bremer Leben – oder: Konzeption einer sozialwissenschaftlich verankerten Berufsorientierung in der gymnasialen Oberstufe. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online. 33, 1-22. Abrufbar unter: http://www.bwpat.de/ausgabe33/anslinger_barp_partetzke_bwpat33.pdf
  • Dedering, H. (1996): Arbeitsehre in der Sekundarstufe I. In: Derdering, H. (Hrsg.): Handbuch zur arbeitsorientierten Bildung. München, 253-280.
  • Engartner, T. (2014): Traditionslinien der Arbeitslehre - oder: Die Arbeitswelt als Gegenstandsbereich politischer Bildung. In: Politische Bildung. 47 (2), 154-164.

 

Weitere Forschung

Vetr.-Prof. Dr. Katrin Hahn-Laudenberg (Uni Wuppertal)
Bedeutung länder- und gruppenspezifischer Unterschiede bei der Wahrnehmung des offenen Unterrichtsklimas. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study (ICSS 2016)

Ein für Diskussionen, unterschiedliche Meinungen und Perspektiven offenes Unterrichtsklima ist ein zentrales Merkmal für Unterrichtqualität. Dies gilt nicht allein, aber im besonderen Maße für den Politikunterricht, konkretisiert sich hierin etwa das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses (Abs, 2005). Mit der Skala zum offenen Unterrichtsklima, welche die aus Schülerperspektive erhobene Wahrnehmung erfasst, besteht ein in der internationalen wie deutschsprachigen empirischen Forschung erprobtes und breit analysiertes Messinstrument (z.B. Abs, Klieme & Roczen, 2013; Lin, 2014; Weißeno & Eck, 2013). Doch inwieweit zeigen sich internationale und gruppenspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung des offenen Unterrichtsklimas sowie ihrer Erklärungskraft für Lernergebnisse? Unter Rückgriff der Daten der International Civic and Citizenship Education Study der IEA (ICCS 2016) werden internationale vergleichende Ergebnisse auf Ebene der Einzelitems und der Skala vorgestellt. Die dazu ausgewertete europäische Teilstichprobe umfasst N=52.788 Schüler*innen aus 15 europäischen Ländern, darunter N=1.451 Schüler*innen an 59 Schulen aus Nordrhein-Westfalen (Deimel & Hahn-Laudenberg, 2017). Im internationalen Vergleich zeigen sich nicht nur Unterschiede im Niveau der Skala insgesamt, sondern auch in der relativen Bedeutung unterschiedlicher Aspekte des offenen Klassenklimas. Vertiefende Analysen für Nordrhein-Westfalen zeigen eine positive Erklärungskraft des offenen Unterrichtsklimas für politisches Wissen sowohl auf Individual-, als auch insbesondere auf Klassenebene, der sich unter Kontrolle von Herkunft und Schulform abschwächt, aber bestehen bleibt.

Literatur:

  • Abs, H. J. (2005): Arten von Standards in der politischen Bildung. In: GPJE (Hrsg.): Testaufgaben und Evaluationen in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts, 9-22.
  • Abs, H. J. / Klieme, E. / Roczen, N. (2007): Abschlussbericht zur Evaluation des BLK-Modellprogramms „Demokratie Lernen und Leben“. Frankfurt a.M.
  • Deimel, D. / Hahn-Laudenberg, K. (2017): Schulische Lerngelegenheiten und Partizipationsmöglichkeiten. In: Abs, H.J. / Hahn-Laudenberg, K. (Hrsg.): Das politische Mindset von 14‐Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Münster, 255-278.
  • Lin, A. R. (2014): Examining students’ perception of classroom openness as a predictor of civic knowledge. A cross-national analysis of 38 countries. In: Applied Developmental Science, 18 (1), 1-14.
    Weißeno, G. / Eck, V. (2013): Wissen, Selbstkonzept und Fachinteresse: Ergebnisse einer Interventionsstudie zur Politikkompetenz. Münster.

 

Praxis

Dr. Susanne Offen (Uni Lüneburg)
Mobilität, Migration und Flucht. Europas Grenzen im Blick der politischen Bildung

Aufbauend auf Unterrichtsbeobachtungen mit Berufs- und Fachschulklassen in der berufliche Bildung formuliert der Vortrag als lesson report konzeptionelle Überlegungen zur Thematisierung von politisch erwünschter und etwa im Rahmen der ErasmusPlus-Programme geförderter (inner -)europäischer Mobilität im Zusammenhang mit Grenzregimes v.a. an den europäischen Außengrenzen. An diesem Kontrast werden gesellschaftliche und politische Perspektiven auf Mobilität, Migration und Flucht sowie politische Regulationsbemühungen im Spannungsfeld von humanitären Werten, Mobilitätsförderung, Grenzsicherung und Migrationspolitik thematisiert und für die politische Bildung aufbereitet. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf Unterrichtsmedien und Aufgabenstellungen, die selbstorganisiertes und forschendes Lernen und eine eigenständige Kontextualisierung von Inhalten bei geringen Vorkenntnissen der Zielgruppen ermöglichen und berufsbezogene Aspekte politischer Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nehmen. Die unterschiedliche Bewertung von Mobilität, Migration und Flucht entlang von Herkunftsländern, Passzugehörigkeiten und historischen Rahmenbedingungen als Fokus der Unterrichtssequenz wird im Beitrag als Nutzung von Kontroversität für politische Bildung diskutiert. Insbesondere wird auch eine historisch-politische Perspektive thematisiert, die Mobilität, Migration und Flucht im europäischen Kontext heute mit Geschichten von Auswanderung konfrontiert.

Literatur:

  • Buckel, S. (2013): »Welcome to Europe« - Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts: Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa«. Bielefeld.
  • Klepp, S. (2011): Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz: Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer. Bielefeld.
  • Offen, S. (2017): Niemand war schon immer da. Mobilität und Migration im europäischen Projekt als Gegenstand der politischen Bildung. In: Polis. 4, 16-18.
  • Scherr, A. (2013): Offene Grenzen? Migrationsregime und die Schwierigkeiten einer Kritik des Nationalismus. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. 43 (171), 335-349.
  • Schwiertz, H. (2011): Foucault an der Grenze: Mobilitätspartnerschaften als Strategie des europäischen Migrationsregimes. München/Berlin/London.
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