Abstracts Panel IV

Freitag, 15.06.2018, 14.10-14.45 Uhr

 

Gesellschaftstheorie

Dr. Stefan Müller (Uni Gießen)
Mündigkeit als Voraussetzung und Ziel Politischer Bildung. Folgerungen aus einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Konformität und Abweichung‘

Die Bezugnahmen auf Mündigkeit nehmen in der sozialwissenschaftlichen Didaktik eine hervorgehobene Bedeutung ein: Mündigkeit gilt es hervorzubringen und zu unterstützen (GPJE 2004: 9; Autorengruppe Fachdidaktik 2016: 13-22). In Bildungskontexten, insbesondere in der Politischen Bildung, steht Mündigkeit nicht nur als normative Voraussetzung und als Ziel zur Diskussion, sondern auch stets vor der Gefahr des Ausnutzens für partikulare, organisationale und/oder instrumentelle Zwecke (Müller 2016).
Dieser Doppelcharakter von Mündigkeit bildet in einer sozialwissenschaftlichen Didaktik nicht nur eine theoretische und praktische Herausforderung, sondern auch Chancen. Im Rückgriff auf die Ergebnisse einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Konformität und Abweichung‘ werden im Vortrag Folgerungen für fachdidaktische Prinzipien gezeigt (vgl. Müller 2018a). Sichtbar wird ein Spannungsfeld, das in einem Mit-, Gegen- und Ineinander von Förderung und Untergrabung von Mündigkeit unter Bedingungen institutioneller Bildungskontexte oszilliert.
Eine weiterführende Option wird mit der fachdidaktischen Unterscheidung von instrumentellen und autonomieförderlichen Bezugnahmen diskutiert. Zentral ist dafür die Annahme, dass die beiden entgegenstehenden Bestrebungen (Förderung und Untergrabung) allenfalls theoretisch voneinander getrennt werden können. Empirisch und real tritt diese Doppelläufigkeit in sich vermittelt auf (Müller 2018b).
Anhand von Unterrichtsbeispielen wird rekonstruiert, wie dieses Spannungsfeld eine mündigkeitsorientierte Politische Bildung prägt. Vorgeschlagen wird ein reflexives Modell, das sowohl die Förderung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten als auch eine Kritik von instrumentellen Orientierungen in und durch fachdidaktische Prinzipien umfasst.

Literatur:

  • Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.) (2016): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Schwalbach/Ts.
  • GPJE – Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (2004): Anforderungen an nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf. Schwalbach/Ts.
  • Müller, S. (2016): Multiperspektivität und Reflexivität als Bezugspunkte politischer Bildung in: zdg. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. 7 (2), 108-118.
  • Müller, S. (2018a): Reflexives Wissen im sozialwissenschaftlichen Unterricht. Folgerungen aus einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Konformität und Abweichung‘. In: Soziologie. Forum der deutschen Gesellschaft für Soziologie. 48 (1), 60-65.
  • Müller, S. (2018b): Rechthaberei und Reflexion. Sozialwissenschaftliche Modelle und Möglichkeiten von Kritik. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 113-131.

 

Fächerzuschnitt

Franziska Hedinger (FH Nordwestschweiz)
Julia Thyroff (FH Nordwestschweiz)
Politische Bildung im Geschichtsunterricht. Empirische Erkundungen zu Ausprägungen von politischer Fachlichkeit

In der Deutschschweiz wird mit dem Lehrplan 21 erstmals Politische Bildung auf Sekundarstufe I als einer von vier Kompetenzbereichen innerhalb der Geschichte verankert. Politische Bildung wird somit oft von Geschichtslehrpersonen fächerübergreifend unterrichtet, ist aber bislang nur marginaler Bestandteil der Ausbildung. Studien deuten drauf hin, dass das Verständnis von Schweizer Lehrpersonen in Bezug auf Politische Bildung im Vergleich zu vorliegenden fachdidaktischen Konzepten1 heterogen und unvollständig ausfällt.
Das SNF-geförderte Projekt „Politische Bildung im fächerübergreifenden Unterricht mit Geschichte auf der Sekundarstufe I“ begegnet dieser Ausgangslage mit einer Weiterbildung für Geschichtslehrpersonen und begleitender Forschung, um einerseits die Vertrautheit der Lehrpersonen mit Prinzipien und Fachlichkeit der Politischen Bildung zu stärken und gleichzeitig Ausprägungen von politischer Fachlichkeit in ihrem Unterricht zu beobachten. Hierfür werden die von den Lehrpersonen durchgeführten Lektionen videographiert und analysiert.
Im Vortrag widmen wir uns vergleichend den Eingangssequenzen von acht (Doppel-)Lektionen in politischer Bildung. Darin lässt sich beobachten, wie die Lehrpersonen ihr Vorhaben einleiten, ob und wie sie dabei die politische Perspektive explizit oder implizit von einer historischen abgrenzen und welche Vorstellungen von der Fachlichkeit des Politischen sich dabei manifestieren. Beispielsweise zeigen sich Tendenzen, politische Bildung als gegenwarts- bzw. aktualitätsbezogen einzuführen. Für die Identifizierung solcher Ausprägungen von Fachlichkeit bzw. angenommener Fachlichkeit erproben wir ein der Eigenlogik des Material Rechnung tragendes und zugleich theoretisch sensibles3 textanalytisches Verfahren. Im Vortrag stellen wir die Sequenzen vergleichend vor und stellen Bezüge zu vorhandenen disziplinären Konzepten her.

Literatur:

  • Allenspach, D. (2014): Verständnisse Deutschschweizer Lehrpersonen von politischer Bildung. In: Ziegler, B. (Hrsg.): Vorstellungen, Konzepte und Kompetenzen von Lehrpersonen der Politischen Bildung. Zürich, 14-36.
  • Bürgler, B. /Hodel, J. (2012): Die «politische Perspektive» im Unterricht – Erkenntnisse einer Videoanalyse von Geschichts- und Politikunterricht. In: Allenspach, D. /Ziegler, B. (Hrsg.): Forschungstrends in der politischen Bildung. Beiträge zur Tagung «Politische Bildung empirisch 2010». Zürich, 51-62.
  • Da Rin, S. /Künzli, S. (2006): Forschungsbericht zur explorativen Studie «Umsetzung von politischer Bildung in der Volksschule». Zürich.
  • Kelle, U. / Kluge, S. (2010): Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2. überarb. Aufl. Wiesbaden.
    Sander, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.

 

Weitere Forschung

Dorothee Gronostay (Uni Duisburg-Essen)
Dafür argumentieren, obwohl ich selbst dagegen bin? Einflussfaktoren der Diskussionsbeteiligung und Urteilsänderung im Politikunterricht

In dieser Teilauswertung der Videostudie Argumentative Lehr-Lernprozesse im Fachunterricht Politik/Wirtschaft wird die mündliche Beteiligung an kontroversen Unterrichtsdiskussionen beschrieben und mit personenbezogenen Merkmalen der Schüler/-innen (N = 221) in Verbindung gesetzt. Auch der Effekt einer zugewiesenen Diskussionsposition (pro/contra) auf die Diskussionsbeteiligung und die persönliche Position zur Streitfrage wurde untersucht. Mündliches Argumentieren ist eine Facette politischer Handlungskompetenz (Detjen, Massing, Richter & Weißeno, 2012), stellt im Rahmen kontroverser Unterrichtsdiskussionen aber auch einen Aspekt mündlicher Beteiligung dar. Politikwissenschaftliche Studien zeigen, dass extravertierte, emotional stabilere Menschen sowie solche mit einer größeren Offenheit für Erfahrungen eher zur Diskussion politischer Themen neigen, während besonders verträgliche Menschen diese tendenziell meiden (z.B. Gerber, Huber, Doherty & Dowling, 2012, ähnlich auch Reinhardt in Bezug auf prosoziale Werte, 2009). Zu Effekten von zugewiesenen Diskussionspositionen gibt es bislang kaum Forschungsarbeiten. Regressions- und Pfadanalysen ergaben, dass die Teilnahme an kontroversen Diskussionen, nicht jedoch am fragend-entwickelnden Unterricht, stark von relativ stabilen Persönlichkeitsmerkmalen und Dispositionen abhängt. Die Einnahme einer zur persönlichen Position konträren Diskussionsposition wirkte sich signifikant negativ auf die Diskussionsbeteiligung aus. Zudem zeigten Schüler/-innen mit konträrer zugewiesener Position deutlich häufiger eine Änderung ihrer persönlichen Position als andere. Dieses Ergebnis verdeutlicht die Wirkmacht von Rollen-bzw. Positionseinnahmen auf die Urteilsbildung.

Literatur:

  • Detjen, J. / Massing, P. / Richter, D. / Weißeno, G. (2012): Politikkompetenz – ein Modell. Wiesbaden.
  • Gerber, A. S. / Huber, G. A. / Doherty, D. / Dowling, C. M. (2012): Disagreement and the avoidance of political discussion. Aggregate relationships and differences across personality traits. In: American Journal of Political Science. 56, 849-874.
  • Reinhardt, S. (2009): Schulleben und Unterricht – nur der Zusammenhang bildet politisch und demokratisch. Zeitschrift für Pädagogik. 55, 860-871.

 

Praxis

Dr. Alexander Wohnig (Heidelberg School of Education)
Alexander Mack (Haus am Maiberg)
„Und es hat alles geklappt auf einmal irgendwie“: Zwischenbericht aus dem Modellprojekt ‚Politische Partizipation‘ 
Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung 

Im Modellprojekt „Politische Partizipation als Ziel der Politischen Bildung“ wird ein pädagogischer Möglichkeitsraum geschaffen, in dem junge Menschen politische Aktionen planen, durchführen und reflektieren können. Für diesen Zweck wurde ein Netzwerk an Kooperationen zwischen Schulen und außerschulischen politischen Bildungsträgern aufgebaut: in Anknüpfung an den schulischen Politikunterricht können Schüler*innen solche Aktionen in Seminaren der außerschulischen politischen Bildung initiieren. Das Modellprojekt wird mithilfe eines partizipativen Forschungssetting begleitet.
Im Workshop werden erste Ergebnisse und Bedingungen für eine gelingende didaktische Begleitung von politischen Aktionen in der politischen Bildung vorgestellt und mit den Teilnehmenden diskutiert.

Literatur:

  • Von Unger, H. (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden.
  • Wohnig, A. (2018): Demokratiebildung durch politische Aktionen in der Kooperation von Schulen und außerschulischer politischer Bildung. In: Lange, D. / Kenner, S. (Hrsg.): Citizenship Education. Konzepte, Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung. Schwalbach/Ts., 269-281.