Abstracts Panel V

Freitag, 15.06.2018, 14.50-15.25 Uhr

Gesellschaftstheorie

Dr. Sophie Schmitt (Uni Marburg)
Zur Reflexion des Selbstverständlichen anstiften – Potenzial soziologischer Perspektiven für die politische Bildung

Gesellschaften zeichnen sich für ihre Mitglieder durch Selbstverständlichkeit(en) aus. Die Art und Weise des Zusammenlebens – gesellschaftliche Institutionen und Strukturen, Verfahren, Normen und Werte – erscheinen den Gesellschaftsmitgliedern als normal und natürlich und sie handeln nach entsprechenden habitualisierten Mustern (Berger/Luckmann 1996). In Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche wird bisher Geltendes in Frage gestellt. So geht der Wandel der Arbeit im Postfordismus einher mit einem Wandel von Familienmodellen, Veränderungen von (Sozial-)Staatlichkeit und von Subjektivität. Während manche Menschen Autonomie- und Freiheitsgewinne, einen Ausbruch aus sozial tradierten Berufsbildern, Biografien und Milieus und erweiterte individualisierte Konsummöglichkeiten erleben, ist der Wandel der Arbeit für andere mit Desintegrationsphänomenen, Status- oder Existenzängsten, Prekarität, steten Unsicherheiten und Bewährungsproben verbunden.
Wie können Lernende diesen Wandel als kritische und mündige Subjekte deutend verstehen, ihre soziale Welt als gestaltbar ansehen und die Bereitschaft und Fähigkeiten dazu entwickeln, diese auch mit zu gestalten anstatt gesellschaftspolitische Problemlagen wie Erwerbslosigkeit zu individualisieren? Wie können sie persönliche Identitäten und Zukunftsentwürfe entwickeln ohne dabei gesellschaftliche Randgruppen abzuwerten (vgl. Schmitt 2017)?
Für die politische Bildung bringen soziologische Perspektiven ein großes Potenzial mit sich. Sie laden ein zu einer Reflexion von Selbstverständlichem, zum Bruch mit der alltäglichen Sicht auf die Welt (vgl. Bourdieu et al. 1991), indem sie die Sozialität, das Gewordensein und den Wandel gesellschaftlicher Strukturen, Diskurse und Praktiken in den Vordergrund stellen und damit ein spezifisches Orientierungswissen für Lernende und Lehrende anbieten. Vor diesem Hintergrund sollten diese Perspektiven im Unterricht und der Lehrer*innenbildung deutlich gestärkt werden.

Literatur:

  • Berger, P. L. / Luckmann, T. (1996): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt.
  • Bourdieu, P. / Chamboredon, J.-C. / Passeron, J.-C. (1991): Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis. Berlin/New York.
  • Schmitt, S. (2017): Jenseits des Hängemattenlandes. Arbeit und Arbeitslosigkeit aus der Sicht von Jugendlichen. Eine Rekonstruktion ihrer Orientierungen und ihre Bedeutung für die politische Bildung. Schwalbach/Ts.

 

Fächerzuschnitt

Prof. Dr. Alexandra Budke (Uni Köln)
Jun.-Prof. Dr. Miriam Kuckuck (Uni Wuppertal)
Bedeutung und Umsetzung der Politischen Bildung im Geographieunterricht aus der Sicht von Geographielehrkräften

Die Politische Bildung in der Schule ist ein in allen Curricula und Lehrplänen verankertes Unterrichtsziel und fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip. Politische Bildung wird demnach nicht nur in dem Fach Politik realisiert, sondern u.a. im Geographieunterricht, in dem viele aktuelle und kontrovers diskutierte gesellschaftliche Probleme und Themen des gesellschaftlichen Wandels behandelt werden wie z.B. Migration, soziale und räumliche Disparitäten/Armut, Klimawandel etc. Das Ziel der politischen Bildung im Geographieunterricht ist die Offenlegung der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Raum und die Entwicklung zur Mündigkeit sowie zur verantwortungsbewussten Gestaltung von
Räumen (Budke 2016, S. 16). Der Geographieunterricht eignet sich wie kein anderes Fach dafür, raumbezogene Konflikte zu thematisieren und die SchülerInnen zu befähigen, zu werten, zu beurteilen und sich ein eigenes Verständnis davon zu machen. Im Geographieunterricht werden die Beziehungen zwischen Mensch- und Umwelt sowohl aus gesellschaftswissenschaftlicher als auch aus naturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet (DGFG 2014).
Zur Frage, wie die Politische Bildung im aktuellen Geographieunterricht tatsächlich berücksichtigt wird, wurden leidfadengestützte Interviews mit 50 GeographielehrerInnen in den Bundesländern Brandenburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen durchgeführt. Ergebnisse zu folgenden Forschungsfragen sollen im Vortrag vorgestellt und diskutiert werden: Inwiefern wird das Unterrichtsprinzip Politische Bildung im Geographieunterricht umgesetzt? Welche Themen stehen im Fokus? Welche Bedeutung hat die Politische Bildung aus der Sicht der Geographielehrkräfte? Welche Bedeutung hat politische Bildung bei der Unterrichtsgestaltung (Methoden, Medien)?
Auf der Grundlage der Ergebnisse, könnten Defizite und Potentiale des Geographieunterrichts bei der Umsetzung der Politischen Bildung identifiziert werden. Abschließend werden Konsequenzen für den Geographieunterricht und für die fächerübergreifende Vermittlung der Politischen Bildung gezogen.

Literatur:

  • Budke, A. (2016): Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht. In: Budke, A.
    / Kuckuck, M. (Hrsg.): Politische Bildung im Geographieunterricht. Stuttgart, 11-25.
  • Deutsche Gesellschaft für Geographie (Hrsg.) (2014): Bildungsstandards im Fach Geographie
    für den Mittleren Schulabschluss. 8. Aufl. Bonn.

 

Weitere Forschung

Prof. Dr. Georg Weißeno (PH Karlsruhe)
Ist das Ziel politischer Mündigkeit zu anspruchsvoll oder der Politikunterricht zu schlecht?

Das Ziel politischer Mündigkeit teilen (fast) alle Politikdidaktiker/-innen, wenn sie auch jeweils Unterschiedliches darunter verstehen. Auch die weiteren damit verbundenen Ziele wie Urteilsfähigkeit, Partizipation etc. müssten sich empirisch zeigen lassen.
Zunächst geht der Vortrag auf das bildungstheoretische Verständnis von Mündigkeit ein. Die Autorengruppe postuliert ihre Vorstellung von „gutem“ Unterricht wie folgt: „Ausgangspunkt des Unterrichts ist die Mündigkeit. Im Zentrum politischer Bildung stehen die Förderung der Urteilskraft und die Befähigung zur Partizipation. Dem dient auch die Wissensvermittlung“ (Autorengruppe Fachdidaktik, 2016, S. 8). Guter Unterricht wird in dieser These mit Mündigkeit assoziiert. Oder anders formuliert: Guter Unterricht produziert Mündigkeit und Partizipation. Wissen dient diesem Ziel, ist aber nicht die Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis.
Der Kompetenzbegriff hat kognitive Irritationen ausgelöst, auf die danach eingegangen wird. Die kompetenztheoretisch argumentierenden Politikdidaktiker/-innen sehen die Hauptaufgabe des (Politik-)Unterrichts in der Wissensvermittlung und kommen zu einem spezifischeren Auftrag für Urteilskraft und Partizipation sowie Mündigkeit. Urteilen ist dann eine Art des Umgangs mit Wissen (Manzel & Weißeno, 2017), während die Mündigkeit und die Partizipationserwartung eine dienende, resultierende oder unterstützende Funktion im Lernprozess einnehmen. Es werden operationalisierbare Kriterien für qualitätsvollen („guten“) Unterricht genannt.
Der dritte Punkt des Vortrags betrifft die Hermeneutik zwischen empirischer und gefühlter Wahrheit. In letzter Zeit sind eine Reihe von belastbaren Studien zur Unterrichtsqualität und Partizipationsbereitschaft im Zusammenhang mit der Aufgabe der Wissensvermittlung entstanden. Danach ist der Politikunterricht nicht qualitätsvoll, die Schüler/-innen können kaum Urteilen und die Partizipation ist kein Hauptfaktor des Lernens.
Abschließend wird diskutiert, ob die Ziele des Politikunterrichts zu anspruchsvoll sind.

Literatur:

  • Manzel, S. / Weißeno, G. (2017): Modell der politischen Urteilsfähigkeit – eine Dimension der Politikkompetenz. In: Oberle, M. / Weißeno, G. (Hrsg.): Politikwissenschaft und Politikdidaktik – Theorie und Empirie. Wiesbaden, 59-86.
  • Weißeno, G. / Landwehr, B. (2015): Effektiver Unterricht über die Europäische Union – Ergebnisse einer Studie zur Schülerperzeption von Politikunterricht. In: Oberle, M. (Hrsg.): Die Europäische Union erfolgreich vermitteln. Perspektiven der politischen EU-Bildung heute. Wiesbaden, 99-109.
  • Weisseno, G. / Landwehr, B. (2015): Knowledge about the European Union in political education. What are the effects of motivational predespositions and cognitive activation? In: McGill Journal of Education. 50 (2/3), 413-432.
  • Weißeno, G. / Köhle, N. / Schmidt, A. / Weißeno, S. / Landwehr, B. (2017): Sind die Lernumgebungen im Politikunterricht lernförderlich? Eine Studie zu den Tiefenstrukturen. In: Mittnik, P. (Hrsg.): Empirische Einsichten in der politischen Bildung. Innsbruck, 9-21.
  • Weißeno G. / Landwehr B. (2018): Politische Partizipation, Selbstkonzept und Fachwissen: Ergebnisse einer Studie. In: Ziegler, B. / Waldis, M. (Hrsg.), Politische Bildung in der Demokratie. Wiesbaden, 175-190.

 

Praxis

Dr. Martin Kenner (Uni Hannover)
Prof. Dr. Anja Besand (TU Dresden)
Was sich von beruflichen Schulen lernen lässt – Ein Diskussionsangebot zum Umgang mit Heterogenität in der politischen Bildung?

Eine aktuelle Herausforderung für berufliche Schulen stellen die heterogenen Voraussetzungen der Lernenden dar, die sich aufgrund unterschiedlicher Biographien und Sozialisationserfahrungen ergeben: 55-jährige Familienväter, die arbeitsmarktbedingt zum beruflichen Neustart gezwungen werden, lernen mit Schülern in einer Klasse, die kaum den Stimmbruch hinter sich haben; Schüler und Schülerinnen schreiben die gleichen Prüfungen unabhängig davon, ob sie eine Hochschulreife mitbringen oder den Hauptschulabschluss gerade noch geschafft haben; Schwierige persönliche Problemlagen drängen nach außen und werden Lehrenden anvertraut, das eigentliche Lernen rückt häufig in den Hintergrund.
An Hand quantitativer Daten zu Stichprobenmerkmalen von Lernenden aus einer Studie im Raum Stuttgart wird zunächst auf strukturelle Aspekte beruflicher Schulen eingegangen, in denen formale Unterschiede der Lernvoraussetzungen sichtbar werden. Wie sich Heterogenität dann konkret auf individueller Ebene zeigt und wie Lehrende mit solchen Herausforderungen umgehen bzw. wie sie ihre Entscheidungen ausbalancierend einordnen, wird mit Hilfe eines Impulses aus einer aktuellen qualitativen Studie (Leitfadeninterviews) mit Lehrenden im Raum Dresden dargestellt.
Inwieweit solche Beispiele des Umgangs vorbildhaft für andere Schularten oder für die Lehrerbildung sein könnten, soll anschließend im Rahmen einer ausführlichen Diskussion erörtert werden.

Literatur:

  • Besand, A. (2014): Monitor politische Bildung an beruflichen Schulen. Schwalbach/Ts.
  • Kenner, M. (2016): Berufliche Entwicklungsperspektiven und gesellschaftspolitische Orientierungen von Schülerinnen und Schülern beruflicher Schulen. Ein aktueller Beitrag zu einer alten Idee. In: ZBW. 112 (3), 406-428.